Lymphologischer
Informationsdienst
rainer h. kraus

Die täglichen Probleme, Häufigkeit des Lipödems

Vor einigen Jahren hat außerhalb lymphologischer Fachkreise kaum jemand etwas von einem Lipödem gehört. Doch in der letzten Zeit berichten TV und Presse immer häufiger über eine Krankheit namens „Lipödem“, die Frauen körperlich verunstaltet, in die Depression treibt und nur durch eine Fettabsaugung zu heilen ist. Der Medienrummel hat den Begriff „Lipödem“ in weiten Kreisen der Bevölkerung bekanntgemacht.

Nur bei den niedergelassenen Ärzten scheint er noch nicht so recht angekommen zu sein. Kommt etwa eine Frau mit dicken, schmerzenden Beinen zum Arzt, ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass der Doktor ihr sagt, sie sei zu dick und müsse abnehmen. Und das ohne versucht zu haben, herauszufinden, WAS denn der Grund für die dicken, schmerzenden Beine sein könnte.

Beispiel: Eine Patientin mit einem ausgeprägten Lipödem kommt zum Arzt. Der wirft einen kurzen Blick auf die Patientin und sagt „Wie sehen Sie denn aus? Wie groß sind sie?“ Die Patientin antwortet „ein Meter dreiundfünfzig“, worauf der Arzt erwidert „und genauso schwer, oder?“.

Die Hälfte der Lipödeme wird erst nach 10 Jahren und mehr diagnostiziert.

Ein Viertel der Lipödeme wird erst nach 30 Jahren und mehr diagnostiziert.

Etwa jede zehnte Frau hat ein Lipödem.
Diese Geschichte ist leider nicht erfunden sondern traurige Realität, die sich in ähnlicher oder anderer Form tagtäglich viele Male wiederholt. Aufgrund der in der Ärzteschaft weit verbreiteten Unkenntnis des Krankheitsbildes „Lipödem“ wird diese Erkrankung meist erst diagnostiziert, wenn sie bereits ein weit fortgeschrittenes Stadium erreicht hat und Folgeschäden aufgetreten sind: In der Hälfte der Fälle vergehen ab dem Auftreten des Lipödems mehr als zehn Jahre, bis die Diagnose gestellt wird, bei fast einem Viertel der Fälle sogar 30 Jahre und mehr! So lange müssen viele der betroffenen Frauen eine wahre Hölle durchlaufen, bis ihnen endlich geholfen wird.

Dieser Zustand ist höchst skandalös, denn das Lipödem ist eine echte Volkskrankheit. Laut einer 2011 von Marshall und Schwahn-Schreiber veröffentlichten Studie[1] liegt bei 9,7 Prozent der Frauen ein „mäßig bis deutlich ausgeprägte(r) Befund im Sinne der deutlich verstrichenen Fesseltaille mit entsprechendem sonografischen Befund“ vor. Demnach wären bei uns also mehr als 3,3 Mio. Frauen betroffen. Földi beziffert die Häufigkeit des Lipödems sogar auf 11 Prozent, was fast 3,8 Mio. Frauen beträfe.

Es gibt Krankheiten, bei denen die Menschen den Betroffenen gegenüber spontan Mitgefühl und Hilfsbereitschaft zeigen. Wartet etwa jemand mit einem weißen Blindenstock oder im Rollstuhl an einer Ampel, bietet sich meist sofort jemand an, um ihm sicher über die Straße zu helfen. Bei manchen anderen Krankheiten hingegen bringen viele Mitmenschen den Betroffenen Abscheu, Verachtung und Spott entgegen. Geradezu ein Paradebeispiel für eine derartige Krankheit ist das Lipödem.

Wir alle wissen, dass menschliche Dummheit und Arroganz weit verbreitet sind. Doch es ist keinesfalls hinnehmbar, dass auch Ärzte diesen „Tugenden“ frönen und Frauen, die an einem Lipödem leiden, als fresssüchtig und bewegungsfaul hinstellen und damit auf deren körperliches Leid auch noch ein seelisches draufsetzen.

Denn davon haben Frauen, die an einem Lipödem leiden, sowieso schon genug. Allein schon die Suche nach einer passenden Hose oder einem Kostüm kann ein Riesenproblem sein. Unterschiede der Konfektionsgrößen von Ober- und Unterkörper von drei oder vier Nummern sind keine Seltenheit.

Der erste und wichtigste Schritt zur Lösung der vielfältigen Probleme, mit denen Lipödem-Patientinnen ständig konfrontiert sind, liegt darin, dass sie ein solides Wissen über ihre Erkrankung und alles was damit zusammenhängt bekommen. Auch wenn sich das Lipödem dadurch nicht in Luft auflöst, wissen sie dann zumindest, was sie tun können und sind eher in der Lage, kompetente Hilfe zu finden.

Zudem gewinnen sie durch ihr Wissen Sicherheit und Selbstbewusstsein. Dann brauchen sie die beleidigenden Sprüche mancher Ärzte und Mitmenschen nicht länger hilflos hinnehmen. Sie können dann den Schwätzern durch qualifizierte Entgegnungen den Wind aus den Segeln nehmen und sie recht dumm aussehen lassen. Das wirkt ausgesprochen aufbauend!


Lipödem in der Antike - Königin von Punt
Das Lipödem ist übrigens keine Krankheit der Neuzeit. Ein Relief im Tempel der Pharaonin Hatschepsut Maat-ka-Ra in Deir el-Bahari bei Luxor aus dem 15. Jahrhundert v.Chr. zeigt Ati, die Königin des mythischen „Gotteslandes“ Punt (neben Ihrem Gemahl Parihou), das man im Südosten Ägyptens vermutet. Man erkennt sehr deutlich das ausladende Gesäß der Königin Ati und die an den Armen und Beinen herabhängenden Fettwülste. Das Originalrelief ist im Museum in Kairo.

[1] „Prävalenz des Lipödems bei berufstätigen Frauen in Deutschland“ (Lipödem-3-Studie), M. Marshall (Tegernsee/Planegg); C. Schwahn-Schreiber (Venenzentrum Elbe-Weser, Otterndorf), Phlebologie 3/2011, Schattauer Verlag
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