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Lipödem + Fibromyalgie = Die Hölle auf Erden

Frauen, deren Hüften und Beine immer dicker werden, deren Beine fürchterlich schmerzen, schon bei der kleinsten Kleinigkeit Blutergüsse bekommen und sich oft so schwer anfühlen, dass es kaum auszuhalten ist, werden von Ärzten gern in die Schublade „gefräßig und bewegungsfaul“ gesteckt.

Ganz ähnlich geht es Menschen, die chronische Schmerzen an mehreren Körperstellen haben, dazu noch unter Steifigkeits- oder Schwellungsgefühle der Hände, Füße oder im Gesicht klagen, die ständig müde und erschöpft sind, unter Konzentrations- und Schlafstörungen sowie Beschwerden im Magen-Darm-Bereich leiden und oft auch eine Überempfindlichkeit für Schmerzreize, teils auch für Geräusche, Gerüche oder Medikamente haben. 80 Prozent der Betroffenen berichten von Wetterfühligkeit. Finden Ärzte keine Ursachen für diese Krankheitszeichen, stecken sie diese Menschen sehr häufig in die „psychische Ecke“.

Bei der ersten Gruppe handelt es sich um Lipödem-Patientinnen, bei der zweiten Gruppe um Menschen mit einem Fibromyalgiesyndrom (FMS). Hierzu schreibt Frau Prof. Dr. Claudia Sommer, Leitende Oberärztin und Professorin für Neurologie mit Schwerpunkt Neuromuskuläre Erkrankungen am Universitätsklinikum Würzburg:

Die meisten Experten gehen heute davon aus, dass es nicht eine Fibromyalgie gibt, sondern dass das Fibromyalgie-Syndrom aus einer Gruppe von Krankheiten und Störungen besteht, die sich in ähnlicher Form manifestieren, aber möglicherweise sehr unterschiedliche Ursachen haben.
„Unter Fibromyalgie oder dem Fibromyalgie-Syndrom (FMS) versteht man einen Symptomenkomplex aus chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen und assoziierten Symptomen wie z.B. Schlafstörungen, vermehrte Ermüdbarkeit, depressive Verstimmung, Schwellungsgefühl der Gelenke, Steifigkeitsgefühl der Extremitäten und gastrointestinale Beschwerden. Die Schmerzen werden meist tief in der Muskulatur empfunden. Die meisten Experten gehen heute davon aus, dass es nicht eine Fibromyalgie gibt, sondern dass das Fibromyalgie-Syndrom aus einer Gruppe von Krankheiten und Störungen besteht, die sich in ähnlicher Form manifestieren, aber möglicherweise sehr unterschiedliche Ursachen haben.“

„Betroffen sind meistens Frauen im mittleren Lebensalter; aber auch jüngere und ältere Frauen und Männer können ein FMS entwickeln.“ Ende des Zitats.

Knapp 4 Prozent der Bevölkerung Deutschlands leiden am FMS. In der Lipödem- / Liplymphödem-Betroffenenbefragung 2014 konnten die Autorinnen Nadine Schuber und Heike Viethen ermitteln, dass 27,3 Prozent der Lipödem-Patientinnen gleichzeitig auch an Fibromyalgie leiden. Kommen beide Erkrankungen in einem Körper zusammen, erleben die Betroffenen in aller Regel sprichwörtlich die Hölle auf Erden.


Die Fibromyalgie ist kein Hirngespinst!

In der Patientenversion der aktuellen wissenschaftlichen Leitlinie „Definition, Ursachen, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms“, die die Deutsche Fibromyalgie Vereinigung und die Deutsche Rheuma-Liga in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schmerzgesellschaft und zwölf weiteren wissenschaftlichen Gesellschaften erarbeitet hat, steht schon ganz am Anfang folgendes:

„Der Begriff Fibromyalgie bedeutet wörtlich übersetzt Faser-Muskel-Schmerz. Um den unterschiedlichen Ursachen der Erkrankung Rechnung zu tragen, wird in der Leitlinie der Begriff „Fibromyalgiesyndrom“ (FMS) gewählt.“

Manche Ärzte behaupten, dass es die Fibromyalgie bzw. ein Fibromyalgiesyndrom im Sinne einer Erkrankung „nicht gibt“. Diese Behauptung ist falsch.
„Manche Ärzte behaupten, dass es die Fibromyalgie bzw. ein Fibromyalgiesyndrom im Sinne einer Erkrankung „nicht gibt“. Diese Behauptung ist falsch. Die „Fibromyalgie“ ist in der internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation innerhalb des Kapitels „Krankheiten des Muskel–Skelett–Systems und des Bindegewebes“ im Unterkapitel „Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes, anderorts nicht klassifiziert“ (ICD -10 -Code M79.7) aufgeführt. Andere Ärzte / Psychotherapeuten behaupten, dass das FMS eine psychiatrische bzw. psychosomatische Krankheit sei. Diese pauschale Behauptung ist ebenfalls falsch. Richtig ist, dass bei FMS-Patienten häufig auch seelische Störungen vorliegen.“ Ende des Zitats.

Sowohl die Kurzfassung als auch die Langfassung dieser Leitlinie, den Leitlinienreport, den Evidenzbericht sowie die Patientenleitlinie können Sie kostenlos von http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-004.html herunterladen. Dass bei FMS-Patienten häufig auch seelische Störungen vorliegen, erstaunt nicht im Geringsten. Denn die zahlreichen und massiven Beschwerden, denen diese Menschen permanent ausgesetzt sind, können selbst eine „robuste“ Seele in die Knie zwingen.


Symptome des FMS

Hierzu steht in der Leitlinie: „Betroffene berichten über
  • chronische (mindestens 3 Monate bestehende) Schmerzen in mehreren Körperregionen (d.h. Nacken oder oberer oder mittlerer Rücken oder Kreuz und Brustkorb und mindestens einen Schmerzort in beiden Armen und beiden Beinen)
  • Ein- und Durchschlafstörungen bzw. über das Gefühl, morgens nicht ausgeschlafen zu sein und vermehrte körperliche und geistige Erschöpfung.“
„Viele Betroffene geben darüber hinaus weitere Beschwerden an:
  • körperliche Beschwerden (Magen, Darm, Harnwege, Atmung, Herz)
  • eine Reizüberempfindlichkeit (z.B. empfindliche Augen, Berührungs-, Geräusch,- und Geruchsempfindlichkeit)
  • seelische Beschwerden (z.B. Nervosität, innere Unruhe, Niedergeschlagenheit, Antriebsverlust).“

Ursachen und Krankheitsmechanismen des FMS

Dazu heißt es in der Leitlinie: „Es gibt keine einzelne, nur für das FMS zutreffende Ursache. Wahrscheinlich führen unterschiedliche Krankheitsursachen und -mechanismen zu einem FMS. Forscher gehen davon aus, dass die Kombination einer Veranlagung mit verschiedenen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren zum Bild eines FMS führt. Das FMS tritt gehäuft in Familien auf. Inwieweit Vererbung und inwieweit psychologische Faktoren (z.B. Lernmechanismen) zu dieser familiären Häufung führen, ist zurzeit nicht bekannt. Folgende weitere Faktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem FMS kommt:
  • Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
  • Rauchen, Übergewicht, mangelnde körperliche Aktivität
  • Körperliche Misshandlung in Kindheit und Erwachsenenalter
  • Sexueller Missbrauch in Kindheit und Erwachsenenalter
  • Stress am Arbeitsplatz"
„Verschiedene Faktoren können einen negativen Einfluss auf den Verlauf der Beschwerden haben:
  • Negative Gedanken und Gefühle, die Betroffene in Zusammenhang mit körperlichen Beschwerden haben
  • depressive Störungen
  • ungünstige Verhaltensweisen (z.B. übertriebene körperliche Schonung) und
  • unangemessene Reaktionen der Umwelt (z.B. mangelndes Verständnis für die Beschwerden oder übertriebene Entlastung der Betroffenen).“


Verlauf, Prognose und Schweregrade des FMS

Lassen wir hierzu nochmals die Leitlinie zu Wort kommen: „Wenn es erst einmal zu FMS-Beschwerden gekommen ist, bestehen die Beschwerden – mit oder ohne medizinische Behandlung – im weiteren Leben fort. Viele Betroffene kommen im Laufe der Zeit mit den Beschwerden und Beeinträchtigungen besser zurecht. Das FMS führt nicht zu einer Invalidität (das bedeutet z.B., dass man NICHT aufgrund des FMS irgendwann im Rollstuhl sitzen wird) und NICHT zu einer Herabsetzung der Lebenserwartung.“

„Die Ausprägung der Symptome und Beeinträchtigungen bei FMS-Betroffenen ist unterschiedlich. Wie bei anderen Erkrankungen (z.B. Herzschwäche, Depression) werden beim FMS unterschiedliche Schweregrade unterschieden… (von der Redaktion gekürzt) Betroffene mit leichteren Formen des FMS haben neben den chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen keine oder wenige andere körperliche oder seelische Beschwerden und keine bzw. geringe Beeinträchtigungen im Alltag (Berufstätigkeit, Hausarbeit, Freizeit). Betroffene mit schwereren Formen des FMS haben neben den chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen zahlreiche und ausgeprägte weitere körperliche Beschwerden (z.B. Reizdarm, Reizblase) und seelische Beschwerden (z.B. Angststörung, depressive Störung). Die Betroffenen sind im Alltag (Berufstätigkeit, Hausarbeit, Freizeit) mäßig bis deutlich beeinträchtigt.“


Schäden an Nervenfasern eindeutig nachgewiesen

Prof. Claudia Sommer und die Medizinerin Nurcan Üçeyler vom Universitätsklinikum Würzburg konnten bei FMS-Patienten eindeutig Schäden an Nervenfasern nachweisen, die für die Wahrnehmung von Schmerzen das Temperaturempfinden verantwortlich sind. Nurcan Üçeyler: „Wir haben bei Patienten mit einem Fibromyalgie-Syndrom deutliche Zeichen für eine Schädigung der kleinen Nervenfasern nachgewiesen“. Und weiter: „Mit dem Nachweis einer Beeinträchtigung der kleinen Nervenfasern bei Patienten mit Fibromyalgie erfüllt Schmerz bei dieser Krankheit nun die Kriterien von neuropathischen Schmerzen, also Schmerzen, die durch eine Schädigung oder Erkrankung des Nervensystems bedingt sind“. Somit gibt es jetzt ein objektiv messbares Kriterium, an dem sich Ärzte bei der Diagnosestellung orientieren können.


Die Diagnose kann wie Suche nach der Nadel im Heuhaufen sein

Bei Verdacht auf ein FMS müssen mögliche Differenzialdiagnosen (= Krankheitsbilder mit ähnlichen Symptomen) sicher ausgeschlossen werden. Diese kommen etwa aus den Fachgebieten Neurologie, Innere Medizin, Orthopädie und Psychiatrie.

Früher galt (und das geistert im Internet immer noch weitverbreitet herum), dass jemand, der über mehr als drei Monate in mehreren Körperregionen Schmerzen hatte und bei Druck auf mindestens 11 von 18 definierten „Tenderpoints“ (Druckpunkten) Schmerzen angab, FMS hat. Davon sind die Mediziner schon vor Jahren abgekommen. Denn da die Intensität des Daumendruckes nur sehr schwer standardisierbar ist, kommen verschiedene Untersucher zu unterschiedlichen Ergebnissen. Zudem blieben Hauptsymptome des FMS (Müdigkeit, kognitive[1] Probleme etc.) dabei völlig unberücksichtigt.

Heute stützt sich die Diagnose hauptsächlich auf Angaben des Patienten zu seiner Krankengeschichte (Anamnese), die mithilfe spezieller Symptom-Fragebögen festgehalten werden. Schmerzen und andere Beschwerden werden anhand von Skalen gemessen. Denn beim FMS handelt es sich um eine „dimensionale Erkrankung“, wozu auch Bluthochdruck oder Diabetes gehören. Im Gegensatz zu den „kategorialen Krankheiten“ wie etwa dem Herzinfarkt (den hat man oder hat ihn nicht!), sind hier die Krankheitsmerkmale auf einer Skala von „gesund“ bis „krank“ verteilt.

Zur Diagnose ist immer auch eine vollständige medizinische Anamnese (Krankengeschichte) einschließlich einer Medikamenten-Anamnese sowie eine medizinische Untersuchung notwendig. Denn es muss geprüft werden, ob körperliche Krankheitsfaktoren vorliegen, welche die chronischen Schmerzen teilweise oder vollständig erklären können. Das beinhaltet eine vollständige körperliche Untersuchung (inkl. Haut, neurologischer und orthopädischer Befund) sowie ein Basislabor. Eine „Fragebogen-Diagnose“ ist schlichtweg nicht möglich.

Zudem ist der Leitlinie zu entnehmen: „Eine fachpsychotherapeutische Untersuchung (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, ärztlicher oder psychologischer Psychotherapeut) wird bei folgenden Konstellationen empfohlen:
  • Hinweisen für vermehrte seelische Symptombelastung (Angst, Depression)
  • Anamnestische Angaben von aktuellen schwerwiegenden psychosozialen Stressoren
  • Anamnestische Angaben von aktuellen oder früheren psychiatrischen Behandlungen
  • Anamnestische Angaben von schwerwiegenden biographischen Belastungsfaktoren
  • Maladaptive Krankheitsverarbeitung
  • Subjektive psychische Krankheitsattributionen“


Wo finden FMS-Patienten Hilfe?

Die Situation von Menschen, die an einem FMS leiden, ähnelt sehr stark der von Patienten mit Lymphödem bzw. Lipödem. Denn da die wenigsten Ärzte sich mit diesen Erkrankungen auskennen, müssen die Betroffenen oft jahrelang „von Pontius bis Pilatus“ laufen, bis sie schließlich – wenn sie denn Glück haben – die korrekte Diagnose und die entsprechende Behandlung erhalten.

Das Krankheitsbild des FMS umfasst sehr viele Facetten. Nur sehr wenige niedergelassene Ärzte haben sich darauf spezialisiert und betreuen hauptsächlich solche Patienten. Meist sind es Rheumatologen, Internisten, Orthopäden und Allgemeinmediziner, die sich damit vertraut gemacht haben und teilweise auch spezielle Kenntnisse in der Schmerztherapie erworben haben. Bei der Suche nach einem geeigneten Arzt ist Ausdauer gefragt. Und wer in einer ländlichen Gegend wohnt, muss meist längere Wege auf sich nehmen, bis sie / er fündig wird. Manchmal können auch Tipps von Freunden, Bekannten oder einer Selbsthilfegruppe hilfreich sein. Oder rufen Sie mehrere Praxen an und fragen, ob die Fibromyalgie einen Schwerpunkt bildet oder besondere Kenntnisse vorhanden sind. Dann können Sie auch herausfinden, welche Wartezeiten die Praxen haben. Denn viele Ärzte, die schwerpunktmäßig FMS-Patienten betreuen, sind oft auf mehrere Wochen, wenn nicht sogar Monate ausgebucht.

In den meisten Fällen ist die gemeinsame Behandlung durch den ortsansässigen Hausarzt und einen vielleicht etwas entfernter gelegenen Facharzt sinnvoll: Der Allgemeinarzt übernimmt die konstante Betreuung, stellt Rezepte aus etc. Durch regelmäßige, aber eben seltenere Besuche bei einem Rheumatologen etc. wird die Therapie immer wieder überprüft und bei Bedarf neu eingestellt. In manchen Fällen werden auch die Fachärzte Kollegen anderer Disziplinen hinzuziehen: Der Rheumatologe überweist etwa zu einem speziellen Schmerztherapeuten (meist ein Facharzt für Anästhesie). Oder er lässt bei einem Radiologen abklären, ob sich hinter den Beschwerden nicht doch eine entzündliche Erkrankung verbirgt.

Siehe auch
www.fibromyalgie-fms.de
fibroliga.alfahosting.orgwww.dgss.org/patienteninformationen/schmerzerkrankungen/fibromyalgie-syndrom
www.rheuma-liga.de/fibromyalgie


Die Behandlung des FMS muss auf die individuelle Situation des Patienten abgestimmt sein

Die Behandlung des FMS besteht aus medikamentösen und nicht-medikamentösen Maßnahmen, einschließlich psychotherapeutischer und physikalischer Therapien. Die FMS-Leitlinie empfiehlt eine individuell angepasste Kombination aus den verschiedenen Bereichen, bei schweren Verläufen auch in Form eines professionell erstellten multimodalen Therapieprogramms.

Ziel der Maßnahmen sind hierbei die Erhaltung oder Verbesserung der Funktionsfähigkeit im Alltag und damit der Lebensqualität sowie die Linderung der Beschwerden. Da es sich um ein lebenslang bestehendes Beschwerdebild handeln kann, werden insbesondere Behandlungsmaßnahmen empfohlen, die von Betroffenen eigenständig durchgeführt werden können (Selbstmanagement), die keine oder nur geringe Nebenwirkungen haben und deren langfristige Wirksamkeit gesichert sein sollte. So umfasst das heutige Konzept meist eine Patientenschulung, den Einsatz von Medikamenten in Verbindung mit Sport- und Funktionstraining, physikalischen Therapien sowie Psychotherapie und Entspannungsmethoden.

In größeren Untersuchungen zeigte sich, dass Medikamente kaum bessere Ergebnisse als Placebos bringen. Multimodale Therapien (die Kombination von Bewegungs- und kognitiver Verhaltenstherapie) schneiden etwas besser als Placebos ab. Noch besser sind Bewegungstherapie und Psychotherapie als Einzelbehandlungen. Es hat sich auch gezeigt, dass sich „neue“ Medikamente hinsichtlich der Verträglichkeit und Symptomreduktion nicht von „alten“ Präparaten unterschieden.

„Wenn man Patienten bittet, die zehn nützlichsten Therapien gegen Fibromyalgie zu nennen, werden Arzneimittel nicht erwähnt.

Bittet man sie aber, die zehn schädlichsten Therapien anzuführen, zählen sie ausschließlich zugelassene Medikamente auf.“
Privat-Dozent Dr. Winfried Häuser, Ärztlicher Leiter des Schwerpunktes Psychosomatik des Klinikums Saarbrücken, berichtete über eine Befragung von 1.600 deutschen FMS-Kranken, an der er mitgewirkt hatte: „Wenn man Patienten bittet, die zehn nützlichsten Therapien gegen Fibromyalgie zu nennen, werden Arzneimittel nicht erwähnt. Bittet man sie aber, die zehn schädlichsten Therapien anzuführen, zählen sie ausschließlich zugelassene Medikamente auf.“

Dr. Häuser, der auch Koordinator der aktuellen S-3-Leitlinie zur Fibromyalgie ist: „Realistische Ziele der Therapie sind Erhalt und Verbesserung der Leistungsfähigkeit im Alltag und nicht Beschwerdefreiheit.“ Er schlägt ein abgestuftes Vorgehen bei der Behandlung vor:
  • Bei leichten Verläufen genügt die Ermutigung des Arztes zu regelmäßigen körperlichen und geistigen Aktivitäten.
  • Eine mittelschwere FMS sollte mit niedrigdosiertem Ausdauertraining und zeitlich begrenztem Einsatz von Medikamenten behandelt werden.
  • Bei schweren Formen der FMS sind meditative Bewegungstherapien (Qi-Gong, Tai-Chi, Yoga etc.), eine zeitliche befristete medikamentöse Therapie sowie multimodale Behandlungskonzepte angezeigt, die mindestens ein körperlich aktivierendes Verfahren mit mindestens einem psychotherapeutischen Verfahren kombinieren.
  • Bei psychischen Begleiterkrankungen sind zusätzlich psychopharmakologische Therapien angezeigt.“

Die Top Ten der von Patienten als am nützlichsten empfundenen Therapien bei Fibromyalgie sind:

  • Ganzkörper-Wärmetherapie
  • Thermalbäder
  • Fibromyalgie-Schulung
  • Hinlegen und Ausruhen
  • Lokale Wärmetherapie
  • Manuelle Lymphdrainage
  • Funktionstraining
  • Bäder
  • Osteopathie
  • Tanztherapie

Tai Chi ist bei Fibromyalgiesyndrom effektiver als Physiotherapie

Dies belegt eine Studie des American College of Rheumatology, an der 226 FMS-Patienten teilnahmen, die im Durchschnitt seit 9 Jahren unter Schmerzen litten. Die Patienten (Durchschnittalter 52 Jahre) wurden auf 5 Gruppen aufgeteilt. In 4 Gruppen wurden sie über 12 bzw. 24 Wochen lang an 1 bzw. 2 Stunden pro Woche im Yang-Stil des Tai Chi unterrichtet. Die 5. Gruppe traf sich für 24 Wochen zweimal wöchentlich zum Ausdauertraining, wo sie sich nach einem Aufwärmtraining für 20 Minuten auf 50 bis 60 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz belasten sollten.

Doch die Ergebnisse in den Tai-Chi-Gruppen waren insgesamt deutlich besser.
Am Ende der Studie wurden die Veränderungen mittels eines speziellen Fragebogens erfasst und mit der Ausgangssituation verglichen. In allen fünf Behandlungsgruppen haben sich die Werte verbessert. Doch die Ergebnisse in den Tai-Chi-Gruppen waren insgesamt deutlich besser. Die Tai Chi-Wirkung zeigte sich als dosisabhängig: Viel hilft viel! Tai Chi zeigte aber auch noch weitere Wirkungen: Die Patienten hatten weniger Angstzustände und verfügten über bessere Bewältigungsstrategien. Sie litten weniger an Gelenkbeschwerden als zuvor und unter der höheren „Dosierung“ hatten sich auch die Depressionen gebessert. Insgesamt waren die Probanden mit der Tai Chi-Therapie zufriedener als mit der Physiotherapie. Diese Zufriedenheit zeigte sich auch daran, dass die Patienten häufiger an den Tai-Chi-Stunden teilnahmen als an den Physiotherapie-Sitzungen.

Tai Chi (chinesisch: Taijiquan), auch „Schattenboxen“ genannt, war eine im Kaiserreich China entwickelte Kampfkunst. Heutzutage wird Tai Chi eher Bewegungslehre oder der Gymnastik betrachtet, das der Gesundheit, der Persönlichkeitsentwicklung und der Meditation dienen kann. Klinische Untersuchungen der westlichen Medizin haben gezeigt, dass regelmäßiges Praktizieren von Tai Chi positive Auswirkungen auf verschiedene Aspekte der physischen und psychischen Gesundheit hat, wie beispielsweise auf das Herz-Kreislauf-System, das Immunsystem, das Schmerzempfinden, das Gleichgewicht, und allgemein auf die Körperkontrolle, Beweglichkeit und Kraft.

Zahlreiche Volkshochschulen und Vereine bieten Tai Chi-Kurse an. Auf www.taijiquan-qigong.de, www.tai-chi.de, www.ddqt.de und zahlreichen anderen Internetseiten findet man Kontaktdaten zu Anbietern von Tai Chi-Kursen. Geben Sie dafür in eine Suchmaschine (Google etc.) einfach „tai chi“ und Ihren Wohnort ein. Zum Lernen werden auch viele Bücher und Videos angeboten, die jedoch einen guten Lehrer nicht wirklich ersetzen können.

[1] Als „kognitiv“ bezeichnet man alles, was mit Denken und der Wahrnehmung verbunden ist. Kognitive Vorgänge können sowohl bewusst, als auch unbewusst erfolgen. Beispiele dafür sind: Konzentration, Zahlenverständnis und Rechenfähigkeit, Lernen, Erinnerung, Planen und Handeln, Raumvorstellung, Intelligenz, Wahrnehmungsprozesse, wozu alle Sinneswahrnehmungen wie das Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Fühlen gehören.
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