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rainer h. kraus

Ernährung, Körpergewicht

Übergewicht und Lipödem sind an sich zwei völlig verschiedene Phänomene. Doch häufig treten sie zusammen auf. Und noch häufiger wird das Lipödem pauschal mit Übergewicht gleichgesetzt. Sogar von Ärzten. Die betroffenen Frauen leiden unter dieser Ungerechtigkeit und Verunglimpfung. Sie fühlen sich mit ihrem Leid alleingelassen und verlieren jegliche Hoffnung, dass ihnen geholfen werden könnte. Das bedeutet eine gravierende psychische Belastung, die wiederum zu ernsten Folgeproblemen führen kann. Im Folgenden möchten wir einen Weg aus dieser unglücklichen Situation aufzeigen.

Es gibt eine Vielzahl möglicher Gründe für das körperliche Übergewicht. Diese können angeboren oder krankhaft sein, aus unserem Konsum- und Bewegungsverhalten resultieren oder unterschiedlichen Umwelteinflüssen geschuldet sein. Meist liegt eine Kombination aus verschiedenen Gründen vor. Darum kann man nie auf Anhieb sagen, worauf in einem konkreten Fall das Übergewicht zurückzuführen ist. Zumindest nicht mit Fug und Recht.

Body Mass Index (BMI) Tabelle
Doch ab wann haben wir Übergewicht? Die Antworten auf diese Frage können von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausfallen. Auch in der Medizin ist die Einstufung einer Person als „übergewichtig“ nicht ganz eindeutig. Es gibt verschiedene Methoden bzw. Formeln zur Berechnung von Unter-, Normal- und Übergewicht. Sehr verbreitet ist der Body-Mass-Index (BMI), den man erhält, wenn man das Körpergewicht (in kg) durch das Quadrat der Körpergröße (in Meter) teilt. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO liegt (bei Erwachsenen) ab einem BMI von 25 oder mehr ein Übergewicht, bei einem BMI unter 18,5 ein Untergewicht vor. Dazwischen liegt das „Normalgewicht“.

Beim Lipödem statt BMI besser „Taille-zu-Größe-Verhältnis” oder „Taille-Hüft-Verhältnis“

Der BMI kann nur aussagekräftig sein, wenn keine bestimmten körperlichen Besonderheiten vorliegen. Ein großes Manko des BMI ist nämlich, dass er nicht zwischen Muskelmasse und Fettmasse unterscheidet und auch die Verteilung des Körperfetts nicht berücksichtigt. Der Box-Weltmeister Wladimir Klitschko hat einen BMI von etwa 28 und wäre demnach übergewichtig. Da ein großer Teil seines Körpergewichts Muskelmasse ist, hat der BMI schlichtweg keine Aussagekraft.

Ähnlich sieht es beim Lipödem aus. Der BMI rechnet das lokal vermehrte Fettgewebe des Lipödems auf den ganzen Körper um und „unterstellt“ damit in vielen Fällen ein Übergewicht. Das ist insbesondere bei Frauen mit schmalem Rumpf und ausgeprägtem Lipödem der Fall. Und selbst wenn ein Übergewicht vorliegt (was bei gut der Hälfte aller Lipödem-Patientinnen der Fall ist), fällt der BMI aufgrund des Lipödems höher aus. Genau das ist der Grund, warum Ärzte Lipödem-Patientinnen so häufig in die Schublade „faul und gefräßig“ stecken!

Wesentlich aussagekräftiger sind hier das Taille-zu-Größe-Verhältnis (WHtR, von englisch „waist to height ratio“) und das Taille-Hüft-Verhältnis (WHR, von englisch „waist to hip ratio“). Im Gegensatz zum BMI berücksichtigen beide die Verteilung des Körperfetts. Berechnet werden sie folgendermaßen:

Das Taille-zu-Größe-Verhältnis (WHtR) erhält man, indem man den Umfang der Taille (in cm) durch die Körpergröße (in cm) teilt. Bei Menschen unter 40 Jahren gilt ein Wert über 0,5 als Gesundheitsrisiko (Herz-Kreislauf-Erkrankungen etc.). Im Alter von 40 bis 50 liegt die Grenze zwischen 0,5 und 0,6, bei über 50-jährigen bei 0,6.

Das Taille-Hüft-Verhältnis (WHR) erhält man, indem man den Umfang der Taille (in cm) durch den Hüftumfang (in cm) teilt. Frauen mit einem Wert von bis zu 0,8 gelten als normalgewichtig, von 0,8 bis 0,84 als übergewichtig, über 0,85 als adipös. Männer mit einem Wert von bis zu 0,9 gelten als normalgewichtig, von 0,9 bis 0,99 als übergewichtig, über 1,0 als adipös.


Von nichts kommt nichts

Das leuchtet ein. Wenn wir aber herausfinden wollen, woher unser Übergewicht kommt, müssen wir systematisch vorgehen. Der erste Schritt dabei ist, die Energiebilanz unseres Körpers aufzustellen. Da gibt es eine Einnahmenseite und eine Ausgabenseite. Wie beim Bankkonto. Nimmt unser Körper mehr ein als er ausgibt, nimmt er zu. Das mag beim Bankkonto angenehm sein, kann uns aber bei unserem Körper missfallen. Jedes Kilo, das wir seit unserer Geburt zugelegt haben, ist von außen zugeführt worden! Denn von nichts kommt nichts. Wie beim Bankkonto.

Die Energiebilanz unseres Körpers lässt sich – wenn nicht geschummelt wird! – recht genau bestimmen. Wenn wir systematisch bilanzieren, wie viele Kalorien (kal) wir innerhalb eines bestimmten Zeitraums aufnehmen und wie viele davon unser Körper in der gleichen Zeit verbraucht, haben wir eine praktikable Basis für die Lösung eines eventuell vorhandenen Gewichtsproblems. Ohne eine Energiebilanz haben wir nicht die geringste Chance, die Ursache eines (eventuell) vorhandenen Übergewichts herauszufinden. Und dann können wir auch nichts dagegen tun.

Und auch nichts dagegen, dass Ärzte Übergewicht meist ohne zu hinterfragen auf eine undisziplinierte Lebensweise zurückführen und pauschal zu Diäten und Sport verdonnern. Halten wir ihnen dagegen unsere protokollierte Energiebilanz unter die Nase, nehmen wir ihnen nicht nur den Wind für ungerechte Schuldzuweisungen aus den Segeln, wir liefern ihnen damit vielmehr eine solide Grundlage für das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen. Im Folgenden zeigen wir Ihnen, wie Sie Ihre körperliche Energiebilanz erstellen können, mit der Sie bei Ihrem Arzt vielleicht auch noch eine Menge Achtungspunkte einheimsen können.

Die Energiebilanz errechnet sich folgendermaßen:

Kalorienaufnahme – Grundumsatz – Leistungsumsatz = Energiebilanz


Tabelle über den Energie-Grundumsatz beim Menschen
Der Grundumsatz entsteht durch die automatisch ablaufenden Lebensfunktionen wie Erhaltung der Körperwärme, Aufrechterhaltung körperlicher Funktionen (Verdauung, Organfunktionen etc.) und geistiger Funktionen, Wachstum (bei Kinder und jungen Menschen), Wiederaufbau verlorengegangener Körperbestandteile (Haare, Fingernägel, Haut etc.) sowie Stoffwechseltätigkeiten. Ein großer und schwerer Körper hat einen größeren Grundumsatz als ein kleiner und leichter. Der Grundumsatz pro Kilogramm Körpergewicht ist vom Geschlecht abhängig und bei Kindern und jungen Menschen relativ hoch. Ab dem 25. Lebensjahr nimmt er stetig ab (siehe Tabelle).

Der Leistungsumsatz bezeichnet die Energiemenge, die wir für alle anderen Aktivitäten (Bewegung, Arbeit, Sport, Freizeit etc.) benötigen. Der Gesamtumsatz unseres Körpers ist die Summe aus Grundumsatz und Leistungsumsatz:

Grundumsatz + Leistungsumsatz = Gesamtumsatz

Bei einem dauerhaft bettlägerigen Menschen, liegt der Gesamtumsatz nur geringfügig über dem Grundumsatz. Dagegen stellt der Grundumsatz von Leistungssportlern und Schwerarbeitern nur einen relativ geringen Anteil des Gesamtumsatzes dar.


Protokoll von Energiezufuhr und -verbrauch

Drucken Sie als erstes einige Protokollbögen, die Kalorientabelle sowie die Energieverbrauch-Tabelle aus. Ab jetzt wird es etwas aufwändig. Stellen Sie eine Waage auf Ihren Esstisch und wiegen Sie alles was Sie zu sich nehmen aufs Gramm genau. Wasser, Kaffee oder Tee können Sie vernachlässigen. Nur die Kalorien der evtl. zugefügten Milch bzw. des Zuckers müssen Sie berücksichtigen.

Die Kalorientabelle enthält die Anzahl der Kalorien (kal) pro 100 g von 371 verschiedenen Nahrungsmitteln und Getränken. Bei Produkten, die nicht in der Tabelle sind, finden Sie in der Regel auf der Verpackung die Kalorienzahl pro 100 Gramm. Wenn Sie dann wiegen, wie viele Gramm Sie von etwas konsumiert haben, können Sie ganz leicht die dabei aufgenommenen Kalorien ausrechnen. Die Energieverbrauch-Tabelle zeigt den Energieverbrauch bei verschiedenen Aktivitäten (pro 15 Minuten) und Körpergewicht.

Beispieltabelle über Energie-Aufnahme und Energie-Verbrauch des Menschen
Damit können Sie die Differenz aus den an einem Tag aufgenommenen und aktiv verbrauchten Kalorien (kal) errechnen. Führen Sie das Protokoll über drei, besser vier Wochen, die typisch für Ihre Lebensweise sind. Also nicht während einer Urlaubsreise, während einer Krankheit mit längerer Bettruhe als üblich, Fieber oder Appetitlosigkeit, der vorösterlichen Fastenzeit (sofern sie eingehalten wird) bzw. Muslime während des Ramadan. Auch sollten in die Zeit keine Feiertage (Weihnachten, Ostern, Geburtstag etc.) fallen, an denen traditionell mehr gegessen – und genascht! – wird. Gehen Sie möglichst sorgfältig vor und schummeln Sie nicht!

Dieses Protokoll kann Ihnen in vielerlei Hinsicht nützen. Sie erkennen damit, ob Sie in ihrem Ess- und Bewegungsverhalten etwas ändern müssen / sollten. Ihr Arzt kann auf der Basis dieses Dokuments Ihre Behandlung problemgerecht gestalten. Gründe für Missverständnisse zwischen ihm und Ihnen werden damit ausgeräumt. Selbst bei der Beantragung der Kostenübernahme einer Liposuktion (als Einzelfall-Entscheidung) oder einer stationären Reha-Maßnahme kann das Protokoll Ihre Position erheblich stärken. Sie werden sehen, wie sehr sich Ihre Mühe lohnt.

Kritiker mögen jetzt einwenden, dass die hier vorgeschlagene Energiebilanzierung manche Feinheiten nicht berücksichtigt. Das ist richtig, doch die Erstellung eines Protokolls der Energiebilanz darf nicht zu kompliziert sein, sonst halten viele sie nicht über drei oder vier Wochen durch. Und dank der relativ langen Protokollier-Dauer fallen Schwankungen nicht sehr ins Gewicht. Denn am Ende der Protokollierung wird die Summe der in diesem Zeitraum aufgenommenen Kalorien durch die Anzahl der Tage geteilt. Ebenso die Summe der verbrauchten Kalorien und die aller Tagesbilanzen. Auf diese Weise erhält man die entsprechenden Durchschnittswerte, die eine sehr hohe Aussagekraft haben.

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