Lymphologischer
Informationsdienst
rainer h. kraus

Hintergrund-Informationen (Physiologie, Pathophysiologie etc.)

Die meisten Gewebe in unserem Körper werden von feinsten Blutgefäßen, „Haargefäße“ oder „Kapillaren“ genannt, mit Wasser, Nahrung (Eiweiß etc.), Sauerstoff, Elektrolyten (Salze etc.), Hormonen, ggf. Medikamenten und anderen Stoffen versorgt. Dies geschieht, indem Blutserum (der flüssige Anteil des Blutes) zusammen mit den darin gelösten Stoffen durch die Wände der Kapillaren in das umliegende Gewebe abgegeben („filtriert“) wird, denn die Wände der Kapillaren sind in einem gewissen Grad durchlässig („permeabel“).

Das bei der Versorgung des Gewebes „verbrauchte“ Wasser, überschüssiges Eiweiß, Abbauprodukte des Stoffwechsels, totes Zellmaterial, Abwehrzellen, Fremdkörper (eingedrungener Schmutz, Tattoo-Farbpigmente etc.), Entzündungsprodukte, Krankheitserreger etc. werden über das Lymphgefäßsystem abtransportiert. Dieses ist (neben dem arteriellen und venösen) das dritte große Gefäßsystem unseres Körpers. Es beginnt in Form von Milliarden mikroskopisch kleinen fingerförmigen Lymphkapillaren in fast allen Geweben des Körpers. Diese nehmen die „lymphpflichtige Last“ auf und leiten sie als „Lymphe“ über Präkollektoren, Kollektoren und Lymphsammelstämme bis hinter die Schlüsselbeine, wo sie in den beiden „Venenwinkeln“ kurz vor dem Herzen in den Blutkreislauf eingeleitet wird.

Auf dem Weg dorthin durchläuft die Lymphe zahlreiche Lymphknoten (wir haben etwa 500-600 davon). Diese „Kläranlagen“ reinigen die Lymphe und entziehen ihr Wasser, das sie in das venöse System einleiten. Der Transport der Lymphe wird durch mehrere Faktoren bewerkstelligt: Zum einen sind da die Lymphangione, eingangs- und ausgangsseitig mit Klappen versehene, pulsierende Abschnitte von Lymphgefäßen (wir haben etwa 10.000-15.000 dieser „Lymph-Herzchen“). Aber auch die Muskeltätigkeit, das Pulsieren der Blutadern, der Druckwechsel im Brustkorb durch die Atmung und die Bewegung (Peristaltik) des Darmes halten die Lymphe im Fluss. Solange das Lymphgefäßsystem gut funktioniert, bemerken wir es nicht. Erst wenn Probleme auftauchen, macht es sich bemerkbar.


Wassereinlagerungen

Für die Wasseransammlungen (Ödeme) im Gewebe des Lipödems sind folgende Faktoren verantwortlich:
  • Das Fettgewebe des Lipödems enthält besonders viele Blutkapillaren.
  • Die Wände der Blutkapillaren des Lipödems sind übernormal durchlässig (hohe Gefäß-Permeabilität).
  • Dadurch tritt viel Flüssigkeit (Serum) aus den Blutkapillaren ins Gewebe über.
  • Die anfallende Flüssigkeit gelangt nur sehr langsam zu den Lymphgefäßen, von denen sie abtransportiert werden kann.
  • Die Haut im Bereich des Lipödems ist sehr dehnbar (=geringe Elastizität).
Die gut durchbluteten Fettzellen des Lipödems sind zu Fettläppchen (Lobuli) gruppiert, die durch bindegewebige Scheidewände (Septen) voneinander getrennt sind. Aufgrund der zahlreichen Blutgefäße im Lipödem und deren hohen Gefäß-Permeabilität fällt ständig viel eiweißreiches Gewebswasser an. Dieses kann nur über Lymphgefäße abtransportiert werden. Doch diese finden sich nur in den Septen, nicht aber in den Lobuli. Also gelangt die Flüssigkeit durch die labyrinth-artigen Spalten zwischen den Fettzellen nur sehr langsam sickernd zu den Lymphgefäßen. Zusätzlich weisen beim Lipödem die Lymphkapillaren der Haut sackartige Erweiterungen (Aneurysmen) auf und die nachgeschalteten Lymphkollektoren sind korkenzieherartig deformiert. Durch diese „mikroangiopathischen“ Veränderungen ist der Lymphfluss im lipödematösen Gewebe gestört und der veno-arterioläre Reflex[1] verzögert und eingeschränkt.

Aufgrund der hohen Dehnbarkeit (=geringe Elastizität) der Haut im Bereich des Lipödems ist der Druck innerhalb des Gewebes sehr niedrig. Dieser kann der „Filtration“ des Serums aus den Kapillaren nur wenig Widerstand entgegensetzen. Durch den geringen Druck werden auch erweiterte Venen und Lymphgefäße nicht genügend zusammengepresst, damit die Klappen, die den Blut- bzw. Lymphfluss in eine Richtung leiten, wieder funktionieren können.

Die schlaffe Haut kann auch den Muskeln, wenn diese angespannt werden, keinen Widerstand entgegensetzen. Die Funktion der „Muskel- und Gelenkpumpe“[2] ist somit stark eingeschränkt. Blut „versackt“ in den Blutgefäßen der Beine und es tritt vermehrt Flüssigkeit in das umliegende Gewebe über. Zusätzlich kann die dehnbare Haut nicht die Rückstellkraft aufbringen um den Innendruck im Gewebe zu erhöhen, den die Lymphgefäße zur Aufnahme von Gewebsflüssigkeit (Lymphbildung) und deren Abtransport benötigen.

Durch das Zusammenwirken dieser Faktoren kommt es zu Ödemen[3] im Unterhautgewebe der Unterschenkel, nicht jedoch in den Füßen[4] (Ausnahme: Lipo-Lymphödem). Durch die aufrechte Körperhaltung (Orthostase) beim Stehen, Sitzen und Gehen verstärken sich diese im Laufe des Tages, es kommt zu „orthostatischen Flüssigkeitseinlagerungen“. Dies ist insbesondere bei warmen Temperaturen der Fall.

Lipödem-Patientinnen sollten alles vermeiden, was zu einer zusätzlichen Wasseransammlung in den Beinen und damit zu einer Verschlimmerung der Beschwerden führt. Liegt etwa eine Krampfader-Erkrankung (Varikosis) vor, was bei vielen Frauen der Fall ist, sollte diese behoben werden. Beim Lipödem ist hier den modernen minimalinvasiven Verfahren Vorzug vor den konventionellen Methoden, wie dem „Stripping“ zu geben, da dabei die Lymphgefäße besser geschont werden.

Aber auch verschiedene Medikamente können zu vermehrter Flüssigkeitseinlagerung im Gewebe führen. Die bekanntesten davon sind Glucocorticoide (entzündungshemmend, werden z.B. gegen allergischen Schnupfen oder Asthma bronchiale eingesetzt), nichtsteroidale Antirheumatika, zahlreiche Hormonpräparate (Verhütungsmittel!), Tamoxifen, Calciumantagonisten, ACE-Hemmer und andere Präparate zur Behandlung von Bluthochdruck, koronarer Herzkrankheit und Herzrhythmusstörungen. Auch Alkohol und scharfe Gewürze können aufgrund ihrer gefäßerweiternden und durchblutungsfördernden Wirkung zu Wassereinlagerungen im Gewebe führen.


Schmerzhaftigkeit

Spontanschmerzen: Aufgrund des beeinträchtigten Lymphabflusses im Lipödem bildet sich um die Fettzellen und ihre Blutkapillaren ein eiweißreicher Flüssigkeitsfilm. Die Sinnesnerven des Fettgewebes reagieren auf das dadurch entstehende abnormale „innere Milieu“ und leiten die Empfindungen ihrer Rezeptoren zum Zentralnervensystem weiter[5]. Der Vorgang wird als Schmerz interpretiert. Frau Dr. Anett Reißhauer, Oberärztin an der Berliner Charité, vermutet eine Reaktion der Nozizeptoren (sensorische Nervenendigungen), die eine Gewebeschädigung in Schmerzsignale umwandelt.

Neben diesen Spontanschmerzen ist das Lipödem auch durch seine Druckschmerzhaftigkeit charakterisiert. Ein Druck auf den Schenkel (insbesondere an den Außenseiten), der von Gesunden als völlig schmerzlos empfunden wird, kann für Lipödem-Patientinnen extrem schmerzhaft sein. Das kann so weit gehen, dass bereits das Gewicht des Stoffs eines Kleides heftige Schmerzen verursacht. Für diese Frauen ist es unmöglich, etwa ein Baby auf den Schoß zu nehmen. Eine zärtliche Berührung des Beins durch den Partner kann einen lauten Aufschrei auslösen. Wir kennen Fälle von zerbrochenen Paarbeziehungen, weil der Partner nicht glauben konnte, dass seine zärtliche Berührung Schmerzen hervorruft und er die Schmerzäußerung als Zeichen der innerlichen Ablehnung durch die Frau interpretierte.


Diät-Resistenz

„Normale“ Fettzellen (Depot- oder Speicherfett) verändern durch Aufnahme oder Abgabe von Fett ihre Größe. Nehmen sie über ein bestimmtes Maß hinaus zu, sprechen wir von einer Hypertrophie (Überernährung). Bleibt die Größe der Fettzellen konstant, aber ihre Anzahl ist vergrößert, liegt eine Hyperplasie (übermäßige Zellbildung) vor.

Prof. Dr. Erich Brenner vom Department für Anatomie, Histologie und Embryologie der Medizinischen Universität Innsbruck schreibt über das Lipödem: „Histologisch findet sich eine Hyperplasie des Fettgewebes. Die Problematik liegt darin, dass oftmals neben einer Vermehrung von Fettzellen (Hyperplasie) auch eine Vergrößerung (Hypertrophie) dieser Fettzellen beobachtet wird. Für die Kausalität der Hyperplasie spricht, dass das Fettvolumen beim Lipödem alimentär nicht beeinflusst werden kann.“

Darin liegt der Schlüssel dafür, dass das Lipödem nichts mit einem ernährungs-bedingtem Übergewicht zu tun hat. Betroffene Frauen sollten Prof. Brenners Aussage aufschreiben und beim nächsten Arztbesuch mitnehmen. Das Lipödem ist demnach eine Kombination aus einer Hypertrophie und einer Hyperplasie von Fettzellen. Ganz offensichtlich überwiegen hier die hyperplastischen Fettzellen. Dies ist eine Erklärung dafür, warum das Lipödem nur ganz wenig oder gar nicht „abgehungert“ werden kann.

Hinzu kommt, dass die Stagnation von eiweißreicher Gewebsflüssigkeit zu einer Fetteinlagerung führt. Dadurch entsteht dieser Teufelskreis: Im Lipödem stagniert Gewebsflüssigkeit; das führt zu einer Zunahme des Fettgewebes wodurch das Lipödem zunimmt. Das wiederum verschlechtert den Abfluss von Gewebsflüssigkeit und so weiter und so fort…


Neigung zu Blutergüssen

Schon im frühen Stadium des Lipödems lassen sich an kleinsten Blutgefäßen (Kapillaren) im Gewebe des Lipödems krankhafte Veränderungen (Mikroangiopathien) nachweisen, die zu einer erhöhten Brüchigkeit (Fragilität) der Blutkapillare führen. Bereits ein geringer Stoß oder Druck auf das Gewebe verletzt die kleinen Adern, wodurch es zu Einblutungen ins Unterhautgewebe kommt. Diese zeigen sich – je nach Größe – als „blaue Flecken“ oder gar als massive Blutergüsse (Hämatome). Die ausgeprägte Tendenz zur Entwicklung von Hämatomen wird durch die Einnahme von gerinnungshemmenden Medikamenten (Aspirin, ASS, Marcumar etc.) noch erhöht.

[1] Der veno-arterioläre Reflex ist ein wichtiger physiologischer Mechanismus, der die Druckverhältnisse in den Blutkapillaren reguliert. Er schützt sie vor dem enormen Druckanstieg, der beim Wechsel von der horizontalen in die vertikale Körperposition aufgrund der Schwerkraft in den Beinen entstehen würde.
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[2] Der Rücktransport des Blutes in Richtung Herz wird durch das pumpende Herz, die Druckänderungen im Brustkorb durch die Atmung sowie die Muskel- und Gelenkpumpen bewerkstelligt. Bei aufrechter Haltung (Stehen, Sitzen) sind Herz und Atmung allein nicht in der Lage, die Schwerkraft, die das Blut nach unten zieht, zu überwinden. Dafür sind die Muskel- und Gelenkpumpen die wichtigste Antriebskraft.

Bei Bewegung der Beine drücken die Muskeln auf die Venen, wodurch das Blut darin in Bewegung gerät. Die Venenklappen (sofern sie intakt sind) lassen das Blut nur in Richtung zum Herzen fließen. Beim Erschlaffen der Muskeln wird das Blut aus der Umgebung angesogen. Dieser Saug-Druck-Mechanismus ist besonders im Bereich der Waden von Bedeutung („Wadenmuskelpumpe“). Es gibt aber auch noch die Fußsohlenpumpe (durch Abrollen des Fußes) und die Sprunggelenkspumpe (durch die Bewegung der Sehnen und Bänder), die mit der Wadenmuskelpumpe zusammenwirken. Damit der Pumpmechanismus funktionieren kann, ist eine gute Beweglichkeit des Sprunggelenkes äußerst wichtig. Schuhe mit hohen Absätzen beeinträchtigen die Funktion der Muskel- und Gelenkpumpen!
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[3] Ödeme sind sicht- und tastbare Schwellungen aufgrund von Flüssigkeitsansammlungen im Gewebe. Meist sind sie Zeichen (Symptome) einer Grunderkrankung (Herz-, Leber-, Nierenschwäche etc.) und keine eigenständige Krankheit. Sie können mit Wassertabletten (Diuretika) ausgeschwemmt werden und treten bei erfolgreicher Behandlung der Grunderkrankung nicht mehr auf. Dagegen ist das chronische Lymphödem (wozu auch das Lipo-Lymphödem gehört) eine eigenständige Krankheit (Diagnose) und kein Symptom.
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[4] Falls auch die Füße (Bisgaard’sche Kulisse, Vorfuß etc.) Flüssigkeitseinlagerungen aufweisen, muss abgeklärt werden, ob ein „internistisches Ödem“ (aufgrund einer Schwäche von Herz, Leber oder Nieren) oder ein Ödem aufgrund einer anderen Ursache (Varikosis, Medikamente, Eiweißmangel etc.) vorliegt. Diese Ödeme sind – mit Ausnahme der bei Varikosis! – an beiden Beinen gleichstark ausgeprägt. Sie lassen sich leicht durch einen Fingerdruck gegen das Schienbein nachweisen (prätibiale Delle).
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[5] „Lehrbuch Lymphologie“, Michael Földi, Ethel Földi (Hrsg.), 2010
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